Im Schatten des Lockdown: die Anlaufstelle für straffällig gewordene Frauen
Die verordneten Verbote und Verriegelungen, die die Bevölkerung vor dem Corona-Virus schützen sollen, haben viele Menschen in eine akute Notlage gebracht. Am härtesten trifft es diejenigen, die auf den unteren Stufen der sozialen Leiter stehen.
Das Ausmaß der Arbeitslosigkeit, die auf den wochenlangen Lockdown folgt, ist noch nicht zu ermessen. Aber Fakt ist, dass unzählige Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen bereits ihre Arbeit verloren haben – darunter auch Frauen, die von der AWO Anlaufstelle für straffällig gewordene Frauen betreut werden. „Die meisten Frauen, die überhaupt einer Arbeit nachgehen können, haben diese verloren“, berichtet Bianca Shah, Leiterin der Anlaufstelle. „Viele arbeiteten als Aushilfen im Gastgewerbe und hatten über Nacht kein Einkommen mehr.“
Schneller Absturz in die Not
Die komplette Schließung der Behörden für die Öffentlichkeit brachte die Frauen in eine ernsthafte Notlage: Wie soll man einen Online-Antrag für Arbeitslosengeld 1 oder die Grundversorgung stellen, wenn man keinen Computer hat? Wie soll man eine Behörde anrufen, wenn kein Geld zum Auffüllen des Guthabens der Handy-Karte da ist? „Anfangs konnte man wegen der Flut der Anrufe im Job-Center telefonisch ohnehin gar niemanden erreichen“, weiß Bianca Shah. Nur gut, dass die Anlaufstelle ihre Türen offen ließ, um die Frauen bei den Online-Anträgen zur Existenzsicherung zu unterstützen.
Schauen wir weiter: Frauen, die etwa wegen Darlehensrückzahlungen an das Jobcenter nicht den vollen Hartz-IV Regelsatz erhalten, sind auf das Angebot der Tafeln angewiesen. Als die Tafel aus Sicherheitsgründen aussetzen musste, war schon Mitte des Monats für Lebensmittel kein Geld mehr im Portemonnaie. „Manche Frauen konnten nicht einmal mehr die Rezeptgebühren in Höhe von 10 Euro für wirklich wichtige Medikamente bezahlen“, erklärt Bianca Shah.
Durch die Schließung der Kitas und Schulen fiel auch die Verpflegung der Kinder in diesen Einrichtungen unter den Tisch. Von welchem Geld sollten die zusätzlichen Mahlzeiten bezahlt werden? „Wir haben in der Anlaufstelle zum Glück einen „Notgroschen“ eingerichtet und Spenden erhalten“, sagt Shah. „Von diesem Geld haben wir für die Frauen und ihre Kinder Lebensmittel und Rezeptgebühren bezahlt. Außerdem konnten wir gespendete Kleidung weitergeben.“
Systemrelevante Behörden auf Online-Kurs
„Ich glaube, dass von der Regierung viele Entscheidungen rein aus der Angst heraus getroffen wurden“, meint Bianca Shah. „Sicherlich war es wichtig, im ersten Schritt für die Sicherheit aller zu sorgen. Aber im nächsten Schritt hätte man in den Behörden nüchtern überdenken müssen, welche Dienstleistungen unbedingt durch einen kontrollierten Einlass erbracht werden müssen, um das Nötigste abzusichern. Während Beschäftigten in systemrelevanten Bereichen allerhand zugemutet wurde fragt man sich, warum systemrelevante Behörden einfach komplett auf Online-Dienste umstellen konnten. Das war sehr bitter für diejenigen, die ohnehin schon am Rande des Existenzminimums leben.“
„Zum Glück war das Wohnen durch Kündigungsschutz abgesichert, der Strom floss weiter und Darlehen konnten unkompliziert gestundet werden – sonst wäre das absolute Chaos ausgebrochen“, versichert Bianca Shah. „Sehr gut fand ich, dass in dieser Zeit die Justizbehörden auf die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe verzichtet haben, wenn verhängte Geldstrafen nicht weiter bezahlt werden konnten“, betont Shah. „Das sollte man zum Anlass nehmen, über die komplette Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe nachzudenken. Während der Haftzeit verlierst du alles, was deine Lebensgrundlagen ausmacht. Das sollte durch Alternativen wie Ratenzahlungen, Wiedergutmachungsleistungen oder Sozialstunden möglichst vermieden werden.“
„Ich komme mir vor, als wäre ich wieder im Knast“
Solches hörten die Mitarbeiter*innen der Anlaufstelle während des Lockdown von den Frauen. „Viele haben traumatisierende Erfahrungen gemacht und leiden an psychischen Erkrankungen wie Angststörungen. Für sie waren das „Eingesperrt sein“ in die eigene Wohnung und die Berichterstattung über die Pandemie ein völliges Desaster“, weiß Shah. Hilfen habe es in der Anfangszeit keine gegeben, selbst die Tagesgruppen in der ambulanten Psychiatrie wurden eingestellt. „Eine Frau ist vor Angst aus ihrer Wohnung geflüchtet und wollte lieber auf der Straße schlafen“, gibt Bianca Shah ein Beispiel.
Für die vielen alleinerziehenden Mütter kam noch hinzu, dass sie mit ihren Kindern wochenlang auf engstem Raum zu Hause bleiben mussten – meist ohne Balkon oder Hof zum Spielen. Isolation, Langeweile, Bewegungsunfreiheit und die Angst der Kinder davor, dass die einzige Bezugsperson, ihre Mama, an dem tödlichen Virus erkranken könnte, mussten bewältigt werden.
Härtetest für das Team
Auch das Team in der Anlaufstelle ging durch eine äußerst harte Zeit. „Für mich war die Entscheidung extrem schwierig und belastend, ob die Anlaufstelle im Lockdown offen bleibt. Das Team musste geschützt werden – aber wir mussten auch unbedingt für die Frauen da sein. Die Nachfrage nach psychologischer und psychosozialer Betreuung und Hilfe für die existenziellen Dinge war immens. Letztlich habe ich beschlossen, die Einrichtung durchgängig geöffnet zu lassen“, umreißt Bianca Shah das Spannungsfeld. Wie mutig!
„Wir haben mit einem dezimierten Team im Schichtmodell im Büro gearbeitet, möglichst alles telefonisch geregelt oder die Frauen im Freien getroffen“, erklärt Shah. „Zum Ausfüllen der Anträge mussten sie aber ins Büro kommen, unter Einhaltung der Abstands- und Hygieneregelungen. Leider können die Frauen nach wie vor nur einzeln das Büro betreten, wir hoffen auf weitere Lockerungen.“
Kontakt
Bianca Shah
Abteilungsleiterin der Anlaufstelle für straffällig gewordene Frauen
Tel.: (+49 69) 448967
bianca.shah@awo-frankfurt.de
Für besondere Engpässe hat die Anlaufstelle einen „Notgroschen“ angelegt. Die Metzler-Stiftung hilft mit einer Spende – bitte helfen auch Sie mit, wenn Sie etwas erübrigen können.